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Theo­rie­bei­trag: Pra­xis (& Theo­rie)

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von Hart­mut M. Grie­se

“Theo­rie selbst ist eine Form der Pra­xis”

Kein ande­res The­ma wird in (sozial-)pädagogischen Stu­di­en­gän­gen, Semi­na­ren, Fort­bil­dun­gen oder Work­shops so lei­den­schaft­lich, so kon­tro­vers und auch so enga­giert dis­ku­tiert wie das die täg­li­che Arbeit fun­die­ren­de „Ver­hält­nis von Theo­rie und Pra­xis“. Der Ter­mi­nus „Pra­xis“ kommt aus dem Grie­chi­schen und meint so viel wie Han­deln, Tun und Machen im Sin­ne von Tätig­keit und Berufs­aus­übung. Pra­xis ver­än­dert das Gesche­hen, greift in vor­ge­fun­de­ne Ver­hält­nis­se ein. In der Neu­zeit (seit dem 18. Jahr­hun­dert) wird Pra­xis in der Regel in einer spe­zi­fi­schen Dua­li­tät zu „Theo­rie“ ver­wen­det, wobei Theo­rie mehr das Beob­ach­ten, Hin­schau­en und schließ­lich die Sys­te­ma­ti­sie­rung diver­ser wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis­se zu einem The­ma meint. „Erfah­rung“ ist dabei der zen­tra­le Punkt bei bei­den Dua­li­tä­ten bzw. Per­spek­ti­ven. Theo­rie ermög­licht Distanz zur Pra­xis und Refle­xi­on über die Pra­xis – aus der Posi­ti­on des Beob­ach­ters. Wäh­rend Pra­xis vor allem mit Han­deln zu tun hat, geht es bei Theo­rie um das sys­te­ma­ti­sche Zusam­men­brin­gen von Den­ken, Erken­nen, Wis­sen und Erfah­run­gen aus der Pra­xis, wodurch Pra­xis refle­xiv wer­den kann (soll­te).

Nun ist es aber so, dass – zumin­dest in der (Sozial-)Pädagogik – in der Regel Theo­rie (kon­kret Aus­bil­dung, Hoch­schu­le, Wei­ter­bil­dung) und Pra­xis (Berufs- bzw. Hand­lungs­feld) an getrenn­ten Orten statt­fin­den. Wie also Theo­rie und Pra­xis zusam­men den­ken, zusam­men brin­gen? Hand­lungs­fel­der kön­nen alles sein, wo beruf­li­che oder ehren­amt­li­che sozia­le Dienst­leis­tun­gen in Form von Bera­tung oder Beglei­tung an Ein­zel­per­so­nen oder Grup­pen (Pro­jek­te, Jugend­club oder Fami­li­en z.B.) erbracht wer­den.

Bekannt ist der Spruch (die Weis­heit?): „Nichts ist so prak­tisch wie eine gute Theo­rie“, denn man soll­te Theorie(n) ken­nen, um die Pra­xis zu ver­ste­hen, zu reflek­tie­ren und not­falls mit Blick auf die Effi­zi­enz zu modi­fi­zie­ren. In den ver­schie­de­nen Theo­rien zur Sozia­len Arbeit wird eben die­ses Ver­hält­nis (unter­schied­lich) dis­ku­tiert, es ist qua­si das Herz­stück (sozial-)pädagogischer Theorie(n). Fol­gen­de Posi­tio­nen sind in Bezug auf das Ver­hält­nis von Theo­rie und Pra­xis in der Sozi­al­ar­beit zu kon­sta­tie­ren:

  • Bei­de sind abhän­gig von exter­nen Vor­ga­ben
    (der Herr­schen­den, der Geld­ge­ber) und von daher qua­si „iden­tisch“ (in
    auto­ri­tä­ren Sys­te­men)
  • Pra­xis hat Vor­rang vor der Theo­rie: Theo­rien sind an
    ihrem Nut­zen für die Pra­xis zu beur­tei­len. Die Pra­xis bestimmt die The­men, mit
    denen sich die Theo­rie befas­sen soll. Die Theo­rie ist qua­si ent­mün­digt, ihr
    wird vor­ge­schrie­ben, womit sie sich befas­sen soll und was für 
    die Pra­xis funk­tio­nal ist. Das ist die Per­spek­ti­ve der
    Pra­xis und vie­ler Prak­ti­ker  in den
    Insti­tu­tio­nen, oft auch „Theo­rie­feind­lich­keit“ oder „Theo­rie­s­kep­sis“ genannt.
  • Theo­rie hat Vor­rang vor der Pra­xis: Theo­re­tisch abge­lei­te­te Wer­te und Zie­le sol­len die Pra­xis anlei­ten, defi­nie­ren und struk­tu­rie­ren (z.B. kirch­li­che, gewerk­schaft­li­che oder par­tei­ische Sozi­al- oder Jugend­ar­beit 
Die­se ide­al­ty­pi­sche Dif­fe­ren­zie­rung des Ver­hält­nis­ses von Theo­rie und Pra­xis in der Sozia­len Arbeit macht schon deut­lich, dass es in der Rea­li­tät um ein „pola­res Span­nungs­feld“ geht, das die wech­sel­sei­ti­ge Abhän­gig­keit von Theo­rie und Pra­xis bestimmt. Letzt­lich gibt es auch kei­ne „rich­ti­gen“ und „fal­schen“ Theo­rien, son­dern nur „nütz­li­che“ (prak­ti­ka­ble) und das Han­deln anlei­ten­de und reflek­tie­ren­de Theo­rien (meist eines Teil­be­reichs der Pra­xis oder die gesell­schaft­li­chen und die insti­tu­tio­nel­len Rah­men­be­din­gun­gen betref­fend). Theo­rien wer­den dann zu „Werk­zeu­gen“, die sozi­al­päd­ago­gisch Täti­ge im „Werk­zeug­kas­ten“ mit sich füh­ren und gege­be­nen­falls aus­pa­cken und, je nach Pra­xis­si­tua­ti­on, aus­ge­wählt anwen­den kön­nen.
Stu­die­ren­de und Praktiker*innen der Sozi­al­ar­bei­t/-päd­ago­gik sind in der Regel kei­ne gro­ßen Freun­de oder gar Fans von Theo­rie, im Gegen­teil, sie stöh­nen bei theo­re­ti­schen Fra­gen und Erör­te­run­gen oder mei­nen gar, dar­auf ver­zich­ten zu kön­nen (wozu Theo­rie?). Theo­rie wird als pra­xis­fern oder gar über­flüs­sig erlebt.

„Wir kön­nen Theo­rien als Werk­zeu­ge begrei­fen, als Instru­men­te, mit denen wir (unse­re) Wirk­lich­keit beschrei­ben und erklä­ren – und als Grund­la­ge für die Ent­schei­dun­gen über unser Han­deln. Sie bie­ten Begrif­fe, Defi­ni­tio­nen und Kate­go­rien, mit deren Hil­fe wir die Welt ‚inter­punk­tie­ren‘ und ver­ste­hen kön­nen. Sie zei­gen uns, wie wir die Wirk­lich­keit beschrei­ben kön­nen, sie stel­len Model­le dar, an Hand derer wir unse­re Beob­ach­tun­gen machen kön­nen … Sie defi­nie­ren und beschrei­ben, und sie stel­len Zusam­men­hän­ge her, sie ver­bin­den bestimm­te Ele­men­te, sie ver­deut­li­chen, wie die­se auf­ein­an­der ein­wir­ken und sie erklä­ren Wir­kungs-zusam­men­hän­ge“. Sozia­le Arbeit braucht, gemäß die­ser Werk­zeug-Meta­pher, nicht eine, son­dern vie­le, auch klei­ne Theo­rien, die sehr unter­schied­lich zur Anwen­dung kom­men kön­nen – je nach Benut­zer und Gegen­stand oder Pro­blem­feld.

Theo­rien regen an zum Nach­den­ken, zum Reflek­tie­ren, zum Ver­ste­hen und sie kön­nen neue Per­spek­ti­ven eröff­nen und Ein­sich­ten ver­mit­teln – aber sie sind nicht „rich­tig“ oder „falsch“, son­dern mehr oder weni­ger „prak­ti­ka­bel“, anwend­bar, nütz­lich für die Pra­xis. Dies ist so wich­tig für das rich­ti­ge Ver­ständ­nis über den Sinn und Zweck von Theorie(n) in der Sozi­al­päd­ago­gik, dass ich die­se The­sen mehr­fach erwäh­ne.

Unter sys­tem­theo­re­ti­scher Per­spek­ti­ve stellt die Pra­xis ein Sub­sys­tem dar, in dem mit sog. Klienten/ Kun­den sozi­al­päd­ago­gisch gear­bei­tet wird, wo berufs­prak­ti­sche Auf­ga­ben und Pro­ble­me wie das Füh­ren von Gesprä­chen, Schrei­ben von Berich­ten, Begut-ach­tun­gen und Bera­tun­gen getä­tigt wer­den. Die Theo­rie ist eher den Begrün­dun­gen und Erklä­run­gen für Zusam­men­hän­ge der Pra­xis geschul­det. Sie wird aber sel­ten in Pra­xis­or­ga­ni­sa­tio­nen der Sozia­len Arbeit ent­wi­ckelt, son­dern in pra­xis­fer­nen Insti­tu­tio­nen wie Hoch­schu­len. „Nicht zuletzt besteht die Dif­fe­renz zwi­schen Theo­rie und Pra­xis dar­in, dass sie nicht zur glei­chen Zeit, am glei­chen Ort statt­fin­den“. Daher kön­nen Theo­rien auch nicht bruch­los in die Pra­xis umge­setzt wer­den – die Anwen­dung von Theo­rie bleibt Auf­ga­be der Prak­ti­ke­rin­nen.

Theo­rie und Pra­xis sind nicht hier­ar­chisch zuein­an­der zu sehen, son­dern als qua­li­ta­tiv ver­schie­de­ne eigen­stän­di­ge Berei­che (Sub­sys­te­me) ein und der sel­ben Sache, die sich in ihren Funk­tio­nen unter­schei­den, aber gleich­wer­tig sind und sich wech­sel­sei­tig beein­flus­sen.

Theo­rien kön­nen nor­ma­tiv (wer­tend – was sein soll) sein oder ana­ly­tisch (beschrei­bend, erklä­rend, ver­ste­hend, nach­voll­zie­hend – was ist). Theo­rien kön­nen ideo­lo­gisch sein und poli­ti­sche Zie­le impli­zie­ren und benen­nen (mehr Gleich­heit und Gerech­tig­keit, Eman­zi­pa­ti­on der Gat­tung Mensch etc.) oder wert­freie Gegen­warts­be­schrei­bun­gen mit theo­re­tisch abge­lei­te­ten Zukunfts­pro­gno­sen. Sozi­al­päd­ago­gi­sche Theo­rien ste­hen dazwi­schen: Sie soll­ten Bestehen­des (Pro­ble­me, Situa­tio­nen, Sach­ver­hal­te) beschrei­ben und erklä­rend nach­voll­zie­hen, aber dann auch dar­aus abge­lei­te­te Kon­zep­te, Vor­schlä­ge für Ver­än­de­run­gen im Sin­ne von Ver­bes­se­run­gen (für Indi­vi­du­en, Grup­pen, Gesell­schaft) ent­wer­fen und vor­schla­gen: „Wo X ist, soll Y wer­den“.

Exkurs:

Die (Aus-)Wahl einer Theo­rie hat aber enor­me Aus­wir­kun­gen auf die Pra­xis. Den­ken wir an die alte Kon­tro­ver­se „natu­re or nur­tu­re“, also: Was bestimmt die Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung eines Indi­vi­du­um: Anlage/Erbe/Natur/Biologie oder Erziehung/Umwelt/Familie/Pflege? In Ablei­tung davon: Ist „Intel­li­genz“ eher bio­lo­gisch-gene­tisch bedingt oder eher von den jewei­li­gen Sozia­li­sa­ti­ons­be­din­gun­gen abhän­gig (fami­liä­res Milieu, Erzie­hung etc.)? Die gesam­te früh­kind­li­che Päd­ago­gik ist davon abhän­gig, wie ich theo­re­tisch an die­se rele­van­te Fra­ge her­an­ge­he: „Füh­ren oder wach­sen las­sen?“ hat Theo­dor Litt die­se Basis­fra­ge genannt. Der Natur, den Genen frei­en Lauf las­sen oder sie regu­lie­ren, ein­däm­men, beschnei­den?  

Mit Blick auf „Intel­li­genz“ gibt es stär­ker gene­tisch (Ver­an­la­ge, Erbe) argu­men­tie­re Theo­rien sowohl wie Theo­rien, die auf Umwelt­fak­to­ren (Erzie­hung, Milieu) schwö­ren … bis hin zu äußerst unwis­sen­schaft­li­chen und frag­li­chen Pro­zent­an­ga­ben (wie Anla­ge = 80% : Umwelt = 20 %), wobei eigent­lich klar sein müss­te, dass die Intel­li­genz (je nach­dem, wie man sie defi­niert) bei Geburt (Psy­cho­lo­gen nen­nen dies Intel­li­genz A) nie­mals gemes­sen wer­den kann, und Intel­li­genz B sich im Lau­fe der Bio­gra­phie ändert und gemes­sen wer­den kann. Ob die­se Intel­li­genz B aber über­wie­gend gene­tisch ver­erbt oder sozia­li­sa­to­risch ange­eig­net wur­de, bleibt unklar. Bei­spiel: Wenn Intel­li­genz eine Recht­eck ist mit den zwei Sei­ten Anla­ge und Umwelt, so kann ein und die sel­be Flä­che (z.B. IQ = 2100) aus 70x30, aber auch aus 30x70 her­rüh­ren. Anla­ge und Umwelt wir­ken auf­ein­an­der ein und beein­flus­sen sich gegen­sei­tig – mess­bar ist nur das Pro­dukt.

Die Zwil­lings­for­schung hat gezeigt, dass ein­ei­ige Zwil­lin­ge, auch wenn sie bei Geburt ver­se­hent­lich  getrennt wur­den, mehr Gemein­sam­kei­ten (nicht nur im Aus­se­hen) haben als zwei­ei­ige Zwil­lin­ge. Letz­te­re unter­schei­den sich nicht von ande­ren Geschwis­tern. Wenn Babys nach der Geburt ver­wech­selt wer­den und bei nicht-leib­li­chen Eltern auf­wach­sen, zeigt sich der Umwelt-Milieu-Fak­tor dahin­ge­hend, dass z.B. der Schul­be­such bzw. Schul­erfolg stark vom Eltern­haus abhän­gig ist. Auch die PISA-Stu­di­en haben die­se Abhän­gig­keit des Schul­erfol­ges vom Eltern­haus (fami­liä­res Milieu, Bil­dungs­mo­ti­va­ti­on) gezeigt. All die­se Erkennt­nis­se wei­sen nur dar­auf hin, dass sowohl Anlage/Gene als auch Umwelt/Milieu Ein­fluss auf die mensch­li­che bzw. indi­vi­du­el­le Ent­wick­lung bzw. Sozia­li­sa­ti­on haben. Und wie ist das bei Kin­dern von gro­ßen Künst­lern oder Sport­lern?

Mozart hat­te zuhau­se ein Kla­vier ste­hen, das er mit 4 Jah­ren nutz­te und sein Vater und sei­ne Schwes­ter waren Musi­ker. Er wuchs inmit­ten von Musik auf und wur­de qua­si täg­lich musi­ka­lisch inspi­riert. Die Eltern von Ski-Welt­meis­ter Felix Neu­reu­ther
waren Spit­zen­sport­ler und Medail­len­ge­win­ner, Chris­ti­an Neu­reu­ther und Rosi Mit­ter­mei­er, die in den – zumin­dest im Win­ter – schnee­be­deck­ten baye­ri­schen Ber­gen auf­wuch­sen. Alles klar?

Wie man mit den bei­den Sys­te­men „Theo­rie und Pra­xis“ und ihrem Ver­hält­nis zuein­an­der umgeht, wie unter­schied­lich „Theo­rie und Pra­xis“ gese­hen wer­den kön­nen, kann recht anschau­lich an dem Zitat des berühm­ten Begrün­ders der „Kri­ti­schen Theo­rie“ bzw. der „Frank­fur­ter Schu­le“, des Phi­lo­so­phen und Sozio­lo­gen Max Hork­hei­mer, able­sen, der sag­te: „Theo­re­tisch bin ich Pes­si­mist – Prak­tisch bin ich Opti­mist“. Es gibt ein Video des bekann­ten Rap­pers Bushi­do zum The­ma „Theo­rie und Pra­xis“, es gibt eine Zeit­schrift für Sozi­al­ar­beit mit dem Titel TUP („Theo­rie und Pra­xis der sozia­len Arbeit“) und den sozio­lo­gi­schen Klas­si­ker „Theo­rie und Pra­xis“ von Jür­gen Haber­mas. Wei­te­re Zita­te, mehr oder weni­ger iro­nisch, oder Erkennt­nis­se aus der Lite­ra­tur zum The­ma will ich im Fol­gen­den noch zum Nach­den­ken über das „Ver­hält­nis von Theo­rie und Pra­xis“ lie­fern:

  •         „Theo­rie­feind­lich­keit ist schäd­lich für die Pra­xis“
  •       Die Fra­ge nach dem Ver­hält­nis von Theo­rie und Pra­xis ist eine sehr prak­ti­sche Fra­ge.
  •       Es gibt kein geziel­tes Han­deln ohne Theo­rie.
  •       Mei­ne (impli­zi­te oder Alltags-)Theorie beein­flusst mein Den­ken und Han­deln.
  •       „Was einer vom Men­schen denkt, ent­schei­det mit über sei­ne theo­re­ti­sche und prak­ti­sche Per­spek­ti­ve“ (Dreit­zel).
  •       Theo­rien sind gut, wenn sie sich in der Pra­xis bewäh­ren und effi­zi­ent sind.
  •       „Es gibt nichts prak­ti­sche­res als eine gute Theo­rie“ (Kant).
  • Theo­re­tisch kann ich prak­tisch alles.
  • „Grau ist jede Theo­rie“ (Goe­the: Faust I).
  • Theo­rie ist, wenn man alles weiß, aber nichts funk­tio­niert. 

“Pra­xis ist, wenn man nichts weiß, aber alles funk­tio­niert.”