Die aktuelle Debatte um die „gespaltene Gesellschaft“
Seit einigen Jahren und zuletzt vehement wird in Medien, in Wissenschaft und Politik von einer zunehmend sich polarisierenden, auseinanderdriftenden und gespaltenen Gesellschaft gesprochen – auch in unserer Rubrik „In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?“ haben wir mehrfach Beispiele dafür aufgeführt. Ich selbst habe schon in den 90er Jahren in einer Art Wortspiel von einer „polarisierten“ statt „pluralisierten Gesellschaft“ geschrieben. Heitmeyer hatte zuvor die zentrale Frage gestellt. „Was treibt die Gesellschaft auseinander und was hält die Gesellschaft zusammen?“. Es geht um die Gretchenfrage der Soziologie: „Sag, wie steht es um die Integration der Gesellschaft?“.
Bei fast allen aktuellen politischen Themen und Fragen herrscht ein Schwarz-Weiß-Denken (Entweder-oder) vor, im Wertebereich eine Art „Kulturkampf“ (vgl. Heizungsdebatte, Migrationsthema, Genderdiskurs, Tradition gegen Moderne, Klimakrise, Identitätspolitik, Festung Europa usw.), der die Mitte der Gesellschaft ausdünnt – was man an Wahlergebnissen deutlich erkennt (Rückgang der etablierten Parteien). Alle paar Wochen „wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben“ bzw. „entdecken“ die Medien oder Ideologen ein neues Empörthema, mit dem man punkten kann und wo die Meinungen auseinander gehen; gegenwärtig vor allem „Migration“ und „Zuwanderung“ („Das Boot ist voll“ – im doppelten Sinn), Energiekosten, Inflation, „Flüchtlinge“, „Arbeitslose“ sowie „Facharbeitermangel“ (wie passt das zusammen?).
4 Konfliktfelder haben Wissenschaftler ausgemacht, wo es emotional wird und ideologische Fronten aufeinander prallen: Die klassische Frage nach (Ursachen der) „Ungleichheiten“ und „Ungerechtigkeiten“ (Mieten, Bildung, Einkommen, Renten usw.), dann „Migration“ (Einwanderung, Integration, Flüchtlinge, Asyl, Zugehörigkeit usw.), „Identität“ (Diskriminierung, Anerkennung, Respekt, Rechte), „Ökologie“ (Umwelt und Natur, Klima, Katastrophen, Zukunftsfragen). Daneben können wir als Folge von Globalisierung und Digitalisierung eine Unübersichtlichkeit der politischen und gesellschaftlichen Realität mit der Folge einer „massenhaften Flucht in die Irrationalität“ (Verschwörungstheorien aller Art) beobachten sowie eine wachsende Sehnsucht nach einfachen (Komplexität reduzierenden) und scheinbar klaren und plausiblen Antworten (Populismus).
Aktuell kommen Fragen von „Krieg und Frieden“ (in Europa) dazu, die alte Gräben (aus der Zeit der Friedensbewegung – Palästinafrage) aufreißen und neue Fragen (wie Verhältnis zu Russland und zu Israel) aufwerfen. Bei alledem scheinen polarisierende Schwarz-Weiß-Bilder vorzuherrschen – aber die Wirklichkeit ist komplex(er) und kompliziert(er) als wir es gerne hätten.
Gegenwärtig (November 2023) werden weitere „Spaltungen“ der Gesellschaft diskutiert und problematisiert: In einem Fernseh-Mehrteiler, der in Halle (!) spielt („Wer sind wir“), geht das Autorenteam davon aus, dass ein „Riss zwischen den Generationen“ existiert, der Miteinander-Reden erschwert und dass sie die „immer größer werdende Kluft zwischen Jung und Alt und zwischen Arm und Reich“ im Film sichtbar machen wollen. Am Beispiel Halle wird diese Gespaltenheit anhand der „reichen bürgerlichen Altstadt“ und dem armen “Halle-Neustadt“ aufgezeigt. Folgt man der Argumentation, so ist unsere Gesellschaft mehrfach „gespalten“, „zerrissen“ – entlang der wesentlichen Merkmale der Intersektionalität: Klassen/ Schichten – Generationen/ Alter – Regionen/ Stadtteile – Religionen (Christen, Moslems, Juden, Konfessionslose) – Ethnien (Einheimische, Einwanderergruppen) – Geschlecht (?). Zu fragen ist: „Was hält die Gesellschaft (noch) zusammen?“ „In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?“
Bau von 60.000 neuen Wohnungen gestoppt
Der Immobilienkonzern Vonovia, größtes Unternehmen seiner Art in Deutschland, gibt den Stopp des Baus von 60.000 Wohnungen wegen hoher Zinsen und Baukosten bekannt, obwohl in unserem Land mehr als 1 Millionen Wohnungen fehlen und die Regierung den Bau von 300.000 neuen Wohnungen im Jahr 2023 versprochen hatte. Angesichts von über 1 Millionen Flüchtlinge allein aus der Ukraine wäre auch dies nur der berühmte „Tropfen auf den heißen Stein“. Vielleicht wäre es auch sinnvoller und zielgerichteter, man würde die Restaurierung von hunderttausenden alten und leeren Wohnungen bzw. Häusern mit entsprechenden Subventionen in Angriff nehmen – Motto: Aus alt mach neu.
Gesucht: Neue Lehrer*innen
Schon jetzt steht fest, dass in Deutschland die Zahl von Schülerinnen und Schülern in den nächsten Jahren stark zunimmt – die Kinder sind ja schon geboren bzw. als Flüchtlinge zu uns gekommen. Dadurch wächst der Bedarf an Lehrkräften enorm. Nach Angaben der Gewerkschaft Bildung und Erziehung (GEW) werden daher bis 2035 mehr als eine halbe Million neue Pädagog*innen benötigt. Allerdings fehlen gegenwärtig bereits mindestens 40.000 Lehrkräfte –Deutschland als „Bildungsgesellschaft“?!
Arme Familien und Krankheit
Aus den „Daten des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen“ wird deutlich, dass Kinder aus armen Familien häufiger krank und oftmals nicht in alters- und entwicklungsgerechter Verfassung sind. Dies trifft in etwa für jedes fünfte Kind aus armen Familien zu. Die Corona-Pandemie hat dabei diese Entwicklung noch verschärft. Die Chancen für eine gesunde Entwicklung sind in Deutschland – wie auch bei der Bildung – ungleich verteilt. Insbesondere betrifft diese Benachteiligung die soziale und emotionale Entwicklung von Kleinkindern.
Altersarmut nimmt zu
Eine Welle der Altersarmut in Bezug auf das Rentenniveau rollt auf immer mehr Frauen und Ostdeutsche zu. Zahlen des Bundesarbeitsministeriums belegen, dass etwa 43 % der derzeit sozialversicherungspflichtigen Vollbeschäftigten zukünftig eine Rente von unter 1500 Euro beziehen wird. 1500 Euro erhält derzeit, wer 45 Jahre lang 40 Stunden in der Woche gearbeitet und dabei gut 20 Euro pro Stunde verdient hat. Da viele keine vollen 45 Jahre arbeiten werden oder in Teilzeit arbeiten und/oder weniger als 20 Euro Stundenlohn beziehen, werden die meisten der 43 % weit niedrigere Rentenbeträge erhalten. Auch ein Mindestlohn von demnächst 12,41 Euro (gefordert werden 14 bzw. 15 Euro) schützt nicht vor Altersarmut – das ist „traurige Realität“, sagt Susanna Karawanskij, Verbandspräsidentin der Volkssolidarität.
„Mehrheit verdient unter 20 Euro pro Stunde“
so lautet diese Tage (September 2023) eine Zeitungsüberschrift: „In der BRD verdient mehr als die Hälfte der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten unter 20 Euro brutto (!) die Stunde. Mehr als jeder Dritte bekommt sogar weniger als 16 Euro … konkret bekommen 21,5 Millionen von 39,8 Millionen Beschäftigten (ohne Auszubildende, H.G.) einen Stundenlohn von unter 20 Euro brutto“. Das sind knapp 54 %, und jeder Dritte (34,2 %) erhält unter 16 Euro; 16,7 % verdienen unter 13 Euro pro Stunde. Die Mehrheit der Deutschen wird demnach eine geringe Altersrente beziehen (vgl. oben). Trotz Vollzeitarbeit droht jeder dritten Frau eine Rente von weniger als 1000 Euro. Für einen Rentenanspruch auf 1200 Euro müssten gegenwärtig Beschäftigte 40 Jahre lang einen Bruttomonatslohn von 3413 Euro beziehen.
The same procedure as every year
Seit Jahrzehnten verlassen jedes Jahr zigtausende junger Menschen die Schule ohne Abschluss – und finden schwer den Weg ins Berufsleben und in eine qualifizierte Ausbildung. Fast 50.000 junge Mitmenschen haben 2021 nach ihrer Pflichtschulzeit die Schule ohne Abschluss verlassen, das sind 6,1 % eines Jahrgangs. Diese traurige Quote stagniert seit Jahren. Dabei sind die Jungen mit 60 % überrepräsentiert und bei den nicht-deutschen Heranwachsenden sind 13,4 % ohne Hauptschulabschluss, bei den deutschen jungen Menschen sind es „nur“ 4,6 %. Ferner unterscheiden sich die Zahlen je nach Bundesland und schwanken geringfügig von Jahr zu Jahr, z.B. 2021 in Bayern 5,1 % und in Bremen 10 % oder Sachsen-Anhalt 9,6 % (gegenüber 12,1 % im Jahr 2011) (alle Zahlen aus E&W Heft 05/2023 – Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW).
Die Feminisierung in Bildung und Erziehung
2/3 der Lehrer*innen in Vollzeit sind weiblich; 87 % derer in Teilzeit sind Frauen und gegenwärtig machen 46 % der Mädchen und nur 35 % der Jungen Abitur! Bei den Schulabgängern ohne Abschluss (vgl. oben) sind 62 % männlich und der Anteil an Förderschulen beträgt 65 %. Ein Spitzenabitur (1,5 Notendurchschnitt oder besser) wird häufiger von jungen Frauen gemacht (1,8 zu 1,0). Es kann also von „gleichen Chancen“ im Bildungssystem keine Rede sein – doch wer diskutiert oder problematisiert diese besondere Ungleichheit (und wohl auch Ungerechtigkeit), ihre Ursachen und Folgen?
Anteil der Männer in Kitas steigt – dennoch Schieflage im Bildungssystem
Die Zahl der männlichen Erzieher in Kindergärten und Kindertagesstätten hat sich in zehn Jahren absolut verdreifacht (von 18.000 auf 53.500) und relativ betrachtet knapp verdoppelt (von 4,1 % auf 7,9 %). Insgesamt sind gegenwärtig etwa 680.000 Menschen in Tageseinrichtungen tätig. Mit den jüngeren Jahrgängen nimmt der Anteil der Männer stark zu (12,6 % bei den unter 30-jährigen). Allerdings sinkt auch die Zahl der Frauen in den besser bezahlten Bereichen der höheren Bildung. An den Grundschulen lehren 88 % Frauen, an Realschulen 67 % und an Gymnasien 61 %. Bei den verbeamteten Professor*innen waren 2021 nur 27 % Frauen. Deutschland hat also eine enorme Schieflage im Bildungssystem, was die Besetzung der Stellen nach Geschlecht betrifft. Je besser die Bezahlung und je höher das Prestige, umso mehr Männer unterrichten, lehren oder forschen.
Frauen — Die stille Reserve für den Arbeitsmarkt
In Deutschland gibt es viele qualifizierte Arbeitskräfte, die gerne arbeiten würden, dies aber nicht tun und dem Arbeitsmarkt daher nicht zur Verfügung stehen. Gemäß dem Statistischen Landesamt handelt es sich dabei um ca. 3 Millionen Menschen bzw. etwa 16 % aller Nichterwerbstätigen (2022). Diese Gruppe unterteilt sich in a) Menschen, die Kinder betreuen oder kurzfristig krankheitsbedingt nicht arbeiten können, b) Menschen, die keinen passenden Job finden und c) Menschen, die „arbeitsmarktfern“ genannt werden, keine Arbeit suchen und auch nicht kurzfristig verfügbar wären, obwohl sie einen Arbeitswunsch äußern. „Wer zur ‚stillen Reserve‘ gehört, wird nicht als erwerbslos gezählt“! Der stillen Reserve gehören 57 % Frauen an, meist Mütter mit Familienpflichten. „58 % der stillen Reserve weisen ein mittleres oder hohes Qualifikationsniveau auf, bei Frauen sind es sogar 60,5 %“ (MZ vom 6.9.2023).
Erwerbstätigkeit von Müttern gestiegen
In den vergangenen 25 Jahren ist die Arbeitstätigkeit von Müttern mit minderjährigen Kindern in Deutschland von 58 % auf 69 % gestiegen. Dabei gibt es nach wie vor, wenn auch geringer, Differenzen zwischen Nord- und Westdeutschland einerseits und Ost- und Süddeutschland andererseits. Nach wie vor ist die Quote berufstätiger Mütter in Ostdeutschland am höchsten – auch die Zahl der Kitaplätze. Ob es da einen Zusammenhang gibt?
Immer mehr Lehrer*innen ohne Lehramtsprüfung
Im Schuljahr 2021/22 waren 8,6 % der Lehrkräfte an den allgemeinbildenden Schulen in Deutschland ohne einen entsprechenden Studienabschluss, also sog. „Seiten- oder Quereinsteiger“. Nach Angaben des Statistischen Bundeamtes hatten rund 60.800 der insgesamt 709.000 Lehrkräfte keine Lehramtsprüfung absolviert. Die Zahl der ordentlichen Absolventen geht trotz Lehrkräftemangels und Werbung für den Beruf zurück, die Zahl der Quereinsteiger steigt.
UNICEF kritisiert deutsches Bildungssystem
Das Kinderhilfswerk UNICEF klagt an, dass im internationalen Vergleich Deutschland für die Grundschulbildung mit 0,7 % des Bruttosozialproduktes sehr wenig Geld für Bildung investiert. Dadurch werden zu viele Kinder frühzeitig chancenlos und abgehängt und schaffen keinen Abschluss. Zudem sind derzeit 1,3 Millionen Kinder vom Risiko dauerhafter Armut betroffen, berichtet UNICEF. Zu den benachteiligten Kindern zählen vor allem Kinder aus Ein-Eltern-Familien, aus kinderreichen Familien und Familien, deren erste Sprache nicht Deutsch ist.
Schieflage im Bildungssystem
Unser Bildungssystem produziert zwar mehr Abiturienten und Akademiker, zugleich sind aber mehr Menschen ungelernt. Dies ist das ambivalente Ergebnis der Studie „Bildung auf einen Blick 2013“ der OECD. So haben zwar 37 % (2015: 30 %) der 25–34-jährigen ein abgeschlossenes Studium, aber 16 % (2015: 13 %) verfügen über keinen Sek.-II-Abschluss oder über eine Berufsausbildung. Das sind fast 1,7 Millionen junge Menschen – etwa jeder sechste ist damit tendenziell ohne Berufs- und Zukunftschancen. „Es ist absurd, einerseits über den Fachkräftemangel zu jammern und andererseits einen großen Teil der jungen Menschen, die da sind, nicht auszubilden“ (GEW-Vorstand).
Es steht schlecht um unsere Demokratie
Vor allem Ostdeutsche und Menschen, denen es ökonomisch schlecht geht, hadern mit bzw. kritisieren unsere Demokratie. Nach einer Studie der Universität Leipzig halten es zwei Drittel der Befragten für sinnlos, sich in der Politik zu engagieren, wobei das geäußerte Engagement stark schichtspezifisch ausgeprägt ist: „Angehörige der Mittel- und Oberschicht engagieren sich häufiger ehrenamtlich. Bei Kommunal- und Landtagswahlen verzichten oftmals bereits über die Hälfte auf ihr Stimmrecht – stark unterschiedlich je nach Region und Wohnquartier bzw. arm und reich. Dies sind Folgen einer zunehmenden Spaltung bzw. Polarisierung unserer Gesellschaft, die in letzter Instanz zu wachsender Entsolidarisierung, zunehmender Entpolitisierung und gefährlicher Entdemokratisierung führen kann und einen Nährboden für rechtspopulistische Ideologien und Parteien bereitet – so die Meinung des bekannten Armutsforscher Christoph Butterwegge.
Abgeschrieben: „Bildungswende jetzt“
Ein von vielen Organisationen gestalteter Bildungskongress am 23. September 2013 in Hannover schreibt auf seinem Werbeflyer zur Veranstaltung:
„Unsere Gesellschaft erlebt aktuell eine der schwersten Bildungskrisen seit Gründung der Bundesrepublik. Ein enormer und sich vergrößernder Mangel an Lehrer*innen und Erzieher*innen trifft auf ein veraltetes, unterfinanziertes und segregiertes Bildungssystem, das sozial ungerecht ist.
- Knapp 50.000 junge Menschen verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss.
- Bis 2035 fehlen ca. 160.000 Lehrer*innen.
- Bundesweit fehlen hunderttausende Kitaplätze und über 300.000 Erzieher*innen, um eine ausreichende Versorgung und einen angemessenen Betreuungsschlüssel zu gewährleisten.
Es ist Zeit für eine echte Bildungswende hin zu einem gerechten, zukunftsfähigen und inklusiven Bildungssystem. Wir fordern gemeinsam von den politischen Entscheidungsträger*innen in Bund und Ländern:
- Kita und Schule ZUKUNFTSFÄHIG und INKLUSIV zu machen
- Eine AUSBILDUNGSOFFENSIVE für Lehrer*innen und Erzieher*innen
- Ein 100 Mrd. SONDERVERMÖGEN Bildung und eine dauerhafte ausreichende Finanzierung in Höhe von 10 % des BIP
- Einen echten BILDUNGSGIPFEL auf Augenhöhe mit den Bildungsbetroffenen“.
Quellen:
- Mike van Schoonderwalt (https://www.pexels.com/de-de/foto/stadt-gebaude-kran-architektur-5505124/)
- Thirdman (https://www.pexels.com/de-de/foto/schule-kinder-studenten-jungen-8926546/)
- Sarah Chai (https://www.pexels.com/de-de/foto/liebe-frau-laptop-surfen-7282818/)
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