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Theo­rie­bei­trag: Ver­stän­di­gung über Pespek­ti­ven

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Zusam­men­fas­sung

Die objek­ti­ve gesell­schaft­li­che Wirk­lich­keit (Rea­li­tät) kön­nen wir wis­sen­schaft­lich, d.h. empi­risch, wegen ihrer Kom­ple­xi­tät und Wider­sprüch­lich­keit, nicht in ihrer Tota­li­tät erfas­sen – empi­risch nach­weis­bar sind nur „Per­spek­ti­ven“, Sicht­wei­sen und Deu­tun­gen der Wirk­lich­keit, also Wirk­lich­kei­ten

“Erwach­se­ne sind lern­fä­hig, aber unbe­lehr­bar.”

(Horst Sie­bert — And­r­ago­ge)

Prä­mis­sen und Aus­gangs­si­tua­ti­on

Die objek­ti­ve gesell­schaft­li­che Wirk­lich­keit (Rea­li­tät) kön­nen wir wis­sen­schaft­lich, d.h. empi­risch, wegen ihrer Kom­ple­xi­tät und Wider­sprüch­lich­keit, nicht in ihrer Tota­li­tät erfas­sen – empi­risch nach­weis­bar sind nur „Per­spek­ti­ven“, Sicht­wei­sen und Deu­tun­gen der Wirk­lich­keit, also Wirk­lich­kei­ten (Plu­ral). Ich unter­schei­de also zwi­schen objek­ti­ver Rea­li­tät und sozi­al kon­stru­ier­ten, empi­risch zugäng­li­chen Wirk­lich­kei­ten. Obwohl exis­ten­ti­ell neue Her­aus­for­de­run­gen regio­na­ler, natio­na­ler und inter­na­tio­na­ler Art den poli­ti­schen All­tag aller Bür­ger* innen und die staat­li­che Poli­tik im enge­ren Sin­ne betref­fen und zum inno­va­ti­ven und krea­ti­ven poli­ti­schen Den­ken und Han­deln pro­vo­zie­ren müss­ten, ist m.E. kei­ne ent­schei­den­de Bewe­gung in der wis­sen­schaft­li­chen Dis­kus­si­on, um die poli­ti­sche Bil­dung zu beob­ach­ten. Dage­gen haben Indus­trie und Wirt­schaft sowie deren Inter­es­sen­ver­tre­ter mit einem neu­en Kon­zept „funk­tio­na­le Wei­ter­bil­dung”, reagiert, kon­kre­ti­siert als „Kom­pe­tenz- oder Qua­li­fi­zie­rungs­of­fen­si­ve” und die zu kurz­fris­tig ver­wert­ba­ren instru­men­tel­len Pro­duk­ti­ons­wis­sen füh­ren soll. Einig­keit nach außen scheint nur dar­in zu bestehen, dass dem empi­risch beleg­ten pas­siv-apa­thi­schen Rück­zug und der Des­in­te­gra­ti­on gro­ßer Bevöl­ke­rungs­tei­le durch poli­ti­sche Bil­dung gemäß dem Leit­bild des – jetzt kom­men schö­ne Wor­te – selb­stän­di­gen, mün­di­gen, kri­ti­schen, kom­pe­ten­ten und aktiv-poli­tisch par­ti­zi­pie­ren­dem Bür­ger ent­ge­gen­ge­wirkt wer­den soll. Fer­ner wird zur Beru­hi­gung kon­sta­tiert, dass „der poli­ti­schen Bil­dung im Rah­men der Wei­ter­bil­dung wei­ter­hin eine beson­de­re Bedeu­tung zu-kommt. Poli­ti­sche Bil­dung gehört zur Innen­aus­stat­tung der poli­ti­schen Kul­tur in unse­rer Demo­kra­tie”.

Theo­re­ti­sche Annä­he­rungs­ver­su­che

In der Dis­kus­si­on um poli­ti­sche Bil­dung geht es in der Regel vor allem um vier Punk­te, die vor dem Hin­ter­grund all­ge­mei­ner gesell­schaft­li­cher und glo­ba­ler Ent­wick­lun­gen, Risi­ken und Ver­än­de­run­gen (öko­lo­gi­scher, öko­no­mi­scher, tech­no­lo­gi­scher, media­ler Art) betrach­tet wer­den (müs­sen):

  • Poli­tik (Ver­ständ­nis und Begriff, eng — weit);
  • Bil­dung (Ver­ständ­nis und Begriff in Abgren­zung oder Annä­he­rung zu Ler­nen, Qua­li­fi­ka­ti­on, Kom­pe­tenz, Erzie­hung, Sozia­li­sa­ti­on);
  • Men­schen­bild (ganz­heit­lich, christ­lich, Men­schen „Men­schen­bild und Men­schen­rech­te“);
  • Gesell­schafts­bild (vgl. Ador­no: „Spät­ka­pi­ta­lis­mus oder Indus­trie­ge­sell­schaft”?, „Infor­ma­ti­ons­ge­sell­schaft oder Über­wa­chungs­staat”? oder unser Dau­er­bren­ner „In wel­cher Gesell­schaft leben wir eigent­lich?“).

Es wird ersicht­lich, dass in die­sen vier zen­tra­len Fun­da­men­ten jeg­li­cher Kon­zep­ti­on von poli­ti­scher Bil­dung bes­ten­falls ein äußer­li­cher ver­ba­ler Kon­sens in einer plu­ra­lis­ti­schen Gesell­schaft bestehen kann. Kon­sens­fä­hig scheint jedoch die Annah­me: Poli­ti­sche Bil­dung bezieht sich qua Defi­ni­ti­on auf das „Poli­ti­sche”. Das Poli­ti­sche kann nur das sein, was all­ge­mein ist bzw. alle Men­schen betrifft – Poli­tik, Bil­dung, Mensch, Gesell­schaft. Poli­ti­sche Bil­dung ist All­ge­mein­bil­dung. Auch in wis­sen­schaft­li­chen Dis­zi­pli­nen, die zur Begrün­dung einer (Didak­tik der) poli­ti­schen Bil­dung her­an­ge­zo­gen wer-den (Poli­tik­wis­sen­schaft, Sozio­lo­gie, Geschichts­wis­sen­schaft, Päd­ago­gik, Anthro­po­lo­gie etc.), fußen theo­re­ti­sche Kon­zep­te z.B. über Erzie­hung oder Sozia­li­sa­ti­on) letzt­lich auf vor- bzw. außer­wis­sen­schaft­li­chen Set­zun­gen (Prä­mis­sen), die nicht mehr strin­gent und rein wis­sen­schaft­lich ableit­bar sind (z.B. Men­schen ver­hal­ten sich rol­len­ge­mäß). Auch Wis­sen­schaft­ler haben spe­zi­fi­sche bio­gra­phi­sche Erfah­run­gen und gesell­schaft­li­che Inter­es­sen, die in ihre Theo­rie­kon­struk­tio­nen (unbe­wusst?) ein­ge­hen. Es sind die All­tags­theo­rien (Ideo­lo­gien, Bil­der) der For­scher, die ihre Theo­rien und For­schun­gen mit-deter­mi­nie­ren – zumin­dest in den Human- und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten. Von daher ist es nicht ver­tret­bar und zu legi­ti­mie­ren, von einer(!) bestimm­ten Auf­fas­sung von Poli­tik, Bil­dung, Mensch oder Gesell­schaft her poli­ti­sche Bil­dung (und ihre Zie­le, Inhal­te, Auf­ga­ben usw.) zu betrei­ben, da dann alle an-deren Auf­fas­sun­gen (Per­spek­ti­ven) gleich­sam dog­ma­tisch aus­ge­grenzt bzw. dis­kri­mi­niert wer­den. Teil­neh­mer an Ver­an­stal­tun­gen der poli­ti­schen Bil­dung haben das Recht, umfas­send, d.h. alle(!) Auf­fas­sun­gen wis­sen­schaft­li­cher und all­tags-theo­re­ti­scher Pro­ve­ni­enz ken­nen­zu­ler­nen und dar­über infor­miert und auf­ge­klärt zu wer­den, damit die­se dann auch auf Inter­es­sen und ideo­lo­gi­sche Her­kunft hin hin­ter­fragt und (gege­be­nen­falls) in Fra­ge gestellt wer­den kön­nen.

Die Ablei­tung päd­ago­gisch-poli­ti­scher (nor­ma­ti­ver!) Zie­le und Inhal­te aus einer (!) sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Theo­rie­po­si­ti­on, die den Anspruch hat, objek­tiv(!) und wert­frei (!) zu infor­mie­ren, klam­mert immer ande­re (eben­so legi­ti­me?) Posi­tio­nen aus und reflek­tiert in der Regel nicht die vor- oder außer­wis­sen­schaft­li­chen Prä­mis­sen (anthro­po­lo­gi­scher und/oder ideo­lo­gi­scher Natur) des Ansat­zes. Fer­ner liegt in der Regel ein Bruch zwi­schen (objek­tiv-neu­tra­ler) sozi­al­wis­sen­schaft­li­cher Ana­ly­se und päd­ago­gisch-poli­ti­scher Ziel­set­zung vor. Letz­te­res Dilem­ma kann nur über­wun­den wer­den, wenn sich die Sozi­al­wis­sen­schaf­ten (wie im Fal­le mar­xis­ti­scher Ver­sio­nen oder in der Kri­ti­schen Theo­rie) selbst als par­tei­lich, nor­ma­tiv und poli­tisch ver­ste­hen. Der erwähn­te „Bruch” ist zwar dann über-wun­den, aber auf Kos­ten von Dog­ma­tis­mus, Exklu­si­on und Nicht-Berück­sich­ti­gung ande­rer Prä­mis­sen. Eben­so ist dann das Recht auf umfas­sen­de und dif­fe­ren­zier­te Infor­ma­ti­on und Wis­sens­ver­mitt­lung nicht berück­sich­tigt. Grund­la­ge muss auch hier der „Beu­tels­ba­cher Kon­sens“ sein.

Ideo­lo­gien, als Gegen­stand poli­ti­scher Bil­dung, sind All­tags­theo­rien bzw. Deu­tun­gen und Über­zeu­gun­gen, in denen Erfah­run­gen und Inter­es­sen bestimm­ter Lebens­la­gen (von Indi­vi­du­en, meist Grup­pen) zum Aus­druck kom­men. Wer sich ein empi­risch unter­leg­tes Bild von die­sen Ideo­lo­gien (All­tags­theo­rien) und Deu­tun­gen (Mei­nun­gen, Auf­fas­sun­gen, Über­zeu­gun­gen) machen kann sowie deren Ent­ste­hung, Ent­wick­lung und Ver­fes­ti­gung bei sich und ande­ren reflek­tie­ren (und not-falls kor­ri­gie­ren) kann, ist poli­tisch gebil­det.

Anlei­hen beim Klas­si­ker Geor­ge H. Mead

„Die Wis­sens­so­zio­lo­gie erforscht die Bezie­hun­gen zwi­schen Wis­sen, Bewusst­sein bzw. den Vor­stel­lun­gen von mate­ri­el­len und sozia­len Zusam­men­hän­gen einer­seits und den sozia­len Struk­tu­ren und Pro­zes­sen, in denen sol­ches Wis­sen ent­steht, ande­rer­seits” (Lexi­kon der Sozio­lo­gie). Es geht in der Wis­sens-sozio­lo­gie dem­nach um die „Seins­ver­bun­den­heit des Den-kens” (wer denkt wie und war­um?) und um die Bedin­gun­gen des Ent­ste­hens und der Ver­mitt­lung von Wis­sen, Ideo­lo­gien und/ oder Welt­an­schau­un­gen (z.B. Auf­fas­sun­gen über Phä­no-mene der Gesell­schaft wie Ungleich­heit, Unge­rech­tig­keit, Ur-sachen von Krieg oder Kli­ma­ka­ta­stro­phe usw.) und deren Kon­se­quen­zen für das Leben und Han­deln von Men­schen in Grup­pen, Klas­sen oder Orga­ni­sa­tio­nen, poli­ti­schen Ver­bän-den usw., die bestimm­te Inter­es­sen ver­tre­ten.

Wis­sens­so­zio­lo­gie ist eng ver­bun­den mit der „Ana­ly­se und Kri­tik von Ideo­lo­gien” und deren Geschich­te, ist Ideo­lo­gie­kri­tik im enge­ren Sinn („gesell­schaft­li­che Auf­klä­rung gegen irra­tio­na­le, bewusst­seins­ver­hül­len­de Herr­schaft”) oder im wei­te­ren Sin­ne als „tota­ler Ideo­lo­gie­ver­dacht” gegen das Den­ken aller Men­schen (Karl Mann­heim). Es gibt kein ideo­lo­gie­frei­es Den­ken – theo­re­tisch nur bei der „frei­schwe­ben­den Intel­li­genz“ (Karl Mann­heim). Wis­sen und Erkennt­nis­se, Mei­nun­gen, Inter­pre­ta­tio­nen und Auf­fas­sun­gen sind dem­nach immer rela­tiv, d.h. abhän­gig und deter­mi­niert von Erfah­run­gen, „Inter­es­sen und gesell­schaft­li­cher Ein­bet­tung in Grup­pen oder Orga­ni­sa­tio­nen“. Die Wis­sens­so­zio­lo­gie basiert auf der empi­ri­schen (!) Prä­mis­se, dass die Auf­fas­sun­gen, All­tags­theo­rien, Inter­pre­ta­tio­nen usw. über die sozia­le Wirk­lich­keit gesell­schaft­lich kon­stru­iert sind (Peter Berger/ Tho­mas Luck­mann) und das Han­deln der Men­schen bestim­men. Kennt­nis die­ser unter­schied­li­chen Deu­tungs­mus­ter, deren Ent­ste­hung, Wei­ter­ver­mitt­lung und ihrer ideo­lo­gi­schen Funk­ti­on wäre Sinn und Ziel poli­ti­scher Bil­dung.

Der Klas­si­ker die­ser wis­sens­so­zio­lo­gi­schen Posi­ti­on, die zugleich infor­mie­rend wie auf­klä­rend ist, ist Geor­ge H. Mead und sei­ne prag­ma­ti­sche Sozi­al­phi­lo­so­phie bzw. sei­ne Theo­rie prak­ti­scher lnter­sub­jek­ti­vi­tät. In sei­nem klas­si­schen Bei­trag zur „objek­ti­ven Rea­li­tät von Per­spek­ti­ven” aus dem Jah­re 1927 hat Mead die wesent­li­chen theo­re­ti­schen Grund­an­nah­men for­mu­liert.

Die objek­ti­ve Rea­li­tät von Per­spek­ti­ven

Aus­ge­hend vom The­ma „Geist und Natur” (!) ent­wi­ckelt Mead die sei­ner Mei­nung nach „stra­te­gisch wich­ti­ge Posi­ti­on” einer „Objek­ti­vi­tät von Per­spek­ti­ven”, mit­tels derer er eine „Atta­cke gegen den meta­phy­si­schen Dua­lis­mus von Geist und Natur” vor­trägt. Auf der Grund­la­ge der „Phi­lo­so­phie der Rela­ti­vi­tät” (Whit­ehead) und psy­cho­lo­gisch-anthro­po­lo­gi­scher Erkennt­nis­se über die Bin­dung von Wahr­neh­mung, Den­ken, Bewusst­sein und Kom­mu­ni­ka­ti­on an die mensch­li­che Natur for­mu­lier­ter grund­la­gen­theo­re­ti­sche Aus­sa­gen zu Gegen­stand und Fra­ge­stel­lung der Sozi­al­wis­sen­schaf­ten: „Ein und die­sel­be Gesamt­heit der Ereig­nis­se” kann/ muss „in unend­lich vie­le ver­schie­de­ne Per­spek­ti­ven ein­ge­ord­net” gedacht wer­den (von jedem Phä­no­men gibt es unter­schied­li­che Sicht­wei­sen); gesell­schaft­li­che Phä­no­me­ne sind sozi­al­wis­sen­schaft­lich nur über die Erfah­rung (Empi­rie) von Indi­vi­du­en (und deren Auf­fas­sun­gen davon) Gegen­stand von Unter­su­chun­gen („Umwelt­be­din­gun­gen zum Bei­spiel exis­tie­ren nur inso­weit, als sie sich auf wirk­li­che Indi­vi­du­en aus­wir­ken, und nur wenn sie auf die­se Indi­vi­du­en wir­ken”); Gesell­schaft ent­steht dadurch, dass Indi­vi­du­en auch in der „Per­spek­ti­ve von ande­ren, ins­be­son­de­re in der gemein­sa­men Per­spek­ti­ve einer Grup­pe han­deln”; Gegen­stand der Sozi­al­wis­sen­schaf­ten sind gemein­sam geteil­te und dadurch ver­steh­ba­re Per­spek­ti­ven, Ideo­lo­gien, die den Nie­der­schlag der Erfah­run­gen und deren psy­chi­sche Ver­ar­bei­tung dar­stel­len. Durch Per­spek­ti­ven­über­nah­me („role-taking”, Empa­thie) ist gemein­sa­mes Han­deln mög­lich.

Neben einer „all­ge­mei­nen Per­spek­ti­ve”, die alle Mit­glie­der einer Gesell­schaft gemein­sam tei­len (der viel­zi­tier­te, aber eigent­lich unmög­li­che „Grund­kon­sens”), exis­tie­ren für jedes The­ma, Phä­no­men oder Pro­blem unter­schied­li­che, jedoch objek­tiv fest­stell­ba­re Per­spek­ti­ven (All­tags­theo­rien, Mei­nun­gen, Auf­fas­sun­gen). „Die gemein­sa­me Per­spek­ti­ve ist Ver­steh­bar­keit (com­pre­hen­si­bi­li­ty)”. Per­spek­ti­ven kön­nen ent­ste­hen, objek­tiv (nach­voll­zieh­bar, ver­steh­bar) wer­den und wie-der ver­ge­hen. Mead nennt hier­für als Bei­spiel das „Pto­le­mäi­sche Welt­bild”. Es gibt Per­spek­ti­ven, die von allen, von vie­len, von weni­gen, nur von spe­zi­el­len Grup­pen oder von nie­man­dem (mehr) geteilt wer­den. Demo­kra­tie besteht, so Mead, dar­in, dass Kom­mu­ni­ka­ti­on und Refle­xi­on über gemein­sam geteil­te Per­spek­ti­ven mög­lich sind. Und poli­ti­sche Bil­dung ist immer ein demo­kra­ti­scher Pro­zess. 

Zusam­men­fas­sung

Ich gehe von der empi­ri­schen Erkennt­nis aus, dass Men­schen Wirk­lich­keit gesell­schaft­lich kon­stru­ie­ren, d.h. auf Grund ihrer Erfah­rung und Lebens­la­ge (Bio­gra­fie) All­tags­theo­rien bil­den zur Erklä­rung und Inter­pre­ta­ti­on wahr­ge­nom­me­ner Phä­no­me­ne. Die­se Auf­fas­sun­gen füh­ren zu objek­ti­ven und ver­ste­hend nach­voll­zieh­ba­ren Per­spek­ti­ven (Sicht­wei­sen, Deu­tungs­mus­ter). Kom­mu­ni­ka­ti­on und Koope­ra­ti­on als gesell­schaft­li­che Grund­pro­zes­se sind, so Mead, an gemein­sam geteil­te Per­spek­ti­ven gebun­den. Die herr­schafts­freie Ver­stän­di­gung dar­über (Dis­kurs nach Haber­mas) stellt die Basis der Demo­kra­tie dar. Ver­stän­di­gung erreicht man nur in einem Pro­zess der wech­sel­sei­ti­gen Per­spek­tiv­ein­nah­me („taking the role of the other” nennt dies Mead). Dazu sind Kennt­nis­se und Wis­sen über ver­schie­de­ne Per­spek­ti­ven not­wen­dig. Und Ver­stän­di­gung, nicht Ver­ste­hen (wel­ches mehr ein­di­men­sio­nal und hier­ar­chisch struk­tu­riert ist), basiert auf Wech­sel­sei­tig­keit, gegen­sei­ti­gem Respekt und Aner­ken­nung, auf Ver­zicht auf Macht, Herr­schaft und Sank­tio­nen und hat eine gemein-sam geteil­te Per­spek­ti­ve zum Ziel.

Was heißt das für die poli­ti­sche Bil­dung? Bei jeder The­men­stel­lung geht es zuerst dar­um, die „objek­ti­ve Rea­li­tät von (unter­schied­li­chen) Per­spek­ti­ven” zu ver­mit­teln, da die Teilnehmer*innen unter­schied­li­che bio­gra­phi­sche Erfah­run­gen gemacht haben, die­se unter­schied­lich ver­ar­bei­tet und inter­pre­tiert haben und in unter­schied­li­chen gesell­schaft­li­chen Situa­tio­nen und Posi­tio­nen (Aus­bil­dung, Beruf, Fami­lie, Ver­ei­ne, Inter­es­sen­grup­pen etc.) ein­ge­bun­den sind (Lern­ziel Diver­si­tät und Tole­ranz). Fer­ner ist es not­wen­dig, die­se unter­schied­li­chen Sicht­wei­sen (All­tags­theo­rien, Deu­tun­gen) ken­nen­zu­ler­nen (Lern­ziel Wis­sen, Infor­ma­ti­on, Erkennt­nis­se) und ihre Ent­ste­hung und Begrün­dung nach­voll­zie­hen zu kön­nen (Lern­ziel Ver­ste­hen).

Dadurch rela­ti­vie­ren sich auch die eige­nen Perspektiven/Sichtweisen der Teil­neh­mer. Es wird deut­lich, dass Per­spek­ti­ven unter­schied­li­cher Art ihre gesell­schaft­lich-bio­gra­phi­schen Ursa­chen haben, dass sie pro­zess­haft über Erfah­run­gen und deren Deu­tung (meist in Grup­pen, vgl. „opi­ni­on lea­der“) ent­ste­hen und sich ver­fes­ti­gen oder auf­lö­sen kön­nen. In einem wei­te­ren Schritt müss­te sodann der Brü­cken­schlag von den All­tags­theo­rien (Per­spek­ti­ven gesell­schaft­li­cher Grup­pen) zu empi­ri­schen Fak­ten und dar­auf auf­bau­en-den wis­sen­schaft­li­chen Theo­rien der unter­schied­li­chen Schulen/ Ansät­ze erfol­gen (Lern­ziel Rela­ti­vie­rung und Selbst-Refle­xi­on). All­tags­theo­rien und wis­sen­schaft­li­che Theo­rien basie­ren auf Prämissen/ Set­zun­gen (Erfah­run­gen, Grup­pen­kon­text, Inter­es­sen, Ideo­lo­gien), die her­aus­zu­ar­bei­ten sind (Lern­ziel: Abbau von Wis­sen­schafts­gläu­big­keit und ‑hörig­keit).

Infor­ma­tio­nen, Wis­sen und (Er)Kenntnis unter­schied­li­cher Per­spek­ti­ven, deren Ent­ste­hung und gesell­schaft­lich-grup­pen­be­zo­ge­ner Ein­bin­dung und Absi­che­rung (Legi­ti­ma­ti­on) füh­ren qua­si auto­ma­tisch zur Fra­ge der dahin­ter­ste­hen­den Inter­es­sen und ihrer ideo­lo­gi­schen Basis. Auch hier­über lie­gen unter­schied­li­che Per­spek­ti­ven (Deu­tungs­mus­ter, Erklä­run­gen) objek­tiv vor (Stamm­tisch­the­sen, Pres­se­er­klä­run­gen, Par­tei­pro­gram­me, wis­sen­schaft­li­che Publi­ka­tio­nen). Per­spek­ti­ven wer­den in der Regel ideo­lo­gisch abge­si­chert, um Inter­es­sen durch­zu­set­zen und legi­ti­mie­ren zu kön­nen. Ideo­lo­gie­kri­tik bedarf der Kennt­nis (Infor­ma­ti­on und Wis­sens­ver­mitt­lung) aller in Fra­ge kom­men­den Ideo­lo­gien (all­tags­theo­re­ti­sche Deu­tun­gen, Erklä­run­gen), um dar­über reflek­tie­ren und die­se rela­ti­vie­ren zu kön­nen. Der die­sem Kon­zept zugrun­de­lie­gen­de „tota­le Ideo­lo­gie­ver­dacht” (als „heu­ris­ti­sches Prin­zip”) kann nur über Pro­zes­se der Ver­stän­di­gung (der wech­sel­sei­ti­gen Ein­nah­me von Per­spek­ti­ven) in einer all­tags-fer­nen Situa­ti­on (in Semi­na­ren zur poli­ti­schen Bil­dung) rela­ti­viert wer­den, in der Ver­ste­hen und Ver­stän­di­gung, Respekt und Tole­ranz, Refle­xi­vi­tät und Frei­heit vom Druck des Han­delns vor­lie­gen.
Inwie­weit die­se „herr­schafts­frei” gewon­ne­nen Ein­sich­ten (in die „objek­ti­ve Rea­li­tät und Berech­ti­gung von Per­spek­ti­ven”) und Refle­xio­nen (über eige­ne und frem­de Per­spek­ti­ven und deren ideo­lo­gi­sche Absi­che­rung) im Schon-raum von Bil­dungs­ver­an­stal­tun­gen in all­täg­li­ches und/ oder poli­ti­sches Han­deln der Teil­neh­mer umge­setzt wer­den bzw. wer­den können/ sol­len, ist, gemäß die­ser auf­klä­re­risch-undog­ma­ti­schen Auf­fas­sung (unser Bild von poli­ti­scher Bil­dung) ein­zig und allein Sache der Betrof­fe­nen — eben ihrer Erfah­run­gen, gesell­schaft­li­chen Ein­bin­dung und Inter­es­sen, denn da-von kann sich kein Mensch befrei­en. Ich gehe aber davon aus, dass rela­ti­vie­ren­de und refle­xi­ve Erkennt­nis­se zu Ver­än­de­run­gen (des Ver­hal­tens, der Per­spek­ti­ven, der Per­sön­lich­keit im Sin­ne von „Erwach­se­nen­so­zia­li­sa­ti­on”) füh­ren, die mehr Tole­ranz, Respekt vor frem­den Per­spek­ti­ven, Ver­stän­di­gung und Kommunikation/ Koope­ra­ti­on zur Fol­ge haben sowie zu einem Anwach­sen einer „gemein­sam geteil­ten Per­spek­ti­ve” füh­ren (opti­mis­ti­scher Aspekt).
Die­ses didak­ti­sche Kon­zept, ich nen­ne es „Ver­stän­di­gung über Per­spek­ti­ven“ habe ich in etli­chen Ver­an­stal­tun­gen zur poli­ti­schen Bil­dung ein­ge­setzt. Was ist/ war nun das Beson­de­re, das Bil­den­de an die­sen mehr­tä­gi­gen Semi­na­ren (denk-bare aktu­el­le The­men wären z.B. Coro­na und die Fol­gen, Ukrai­ne­krieg, Kli­ma­wan­del, Künst­li­che Intel­li­genz, neue Medi­en, Post­de­mo­kra­tie, Infla­ti­on, Mie­ten­wahn etc.)?
Die Teilnehmer*innen ler­nen – je nach The­ma – unter­schied­li­che Per­spek­ti­ven (Deu­tun­gen) zu ein und dem­sel­ben Phä­no­men ken­nen (Wis­sen: Geschich­te und Geschich­ten), erwei­tern und rela­ti­vie­ren dadurch ihre eige­ne Per­spek­ti­ve (Refle­xi­on) und ver­ste­hen ande­re Per­spek­ti­ven bes­ser (wach­sen­de Tole­ranz gegen­über z.B. „wis­sen­schaft­li­chen”, „christ­li­chen”, poli­tisch-ideo­lo­gi­schen, eher „eso­te­ri­schen”, anthro­po­soph-ischen sowie all­tags­theo­re­ti­schen Sicht­wei­se). Es wird deut­lich, dass Per­spek­ti­ven an Inter­es­sen und Ideo­lo­gien gebun­den sind. Es kann ver­deut­licht wer­den, dass es objek­tiv (empi­risch nach­weis­bar) unter­schied­li­che Per­spek­ti­ven gibt, dass „die Wahr­heit” nicht zu fin­den ist, dass alle Deu­tun­gen für ihre Nut­zer auch Berech­ti­gung haben, dass aber auch alle Deutungen/ Mei­nun­gen inter­es­sen- und ideo­lo­gie­ab­hän­gig sind. Kurz­um: Es gibt nicht die eine rich­ti­ge Theo­rie, es gibt nicht die eine objek­ti­ve Wahr­heit, es gibt eine Rea­li­tät, aber ver­schie­de­ne Wirk­lich­kei­ten, wenn es um Phä­no­me­ne des Sozia­len bzw. des mensch­li­chen Zusam­men­le­bens, mensch­li­cher Erfah­run­gen und Inter­pre­ta­tio­nen in Gesell­schaf­ten geht. Die­se Kon­zep­ti­on einer wis­sens­so­zio­lo­gisch-ideo­lo­gie­kri­ti­schen Fun­die­rung der poli­ti­schen Bil­dung ist:

  • infor­ma­tiv, nicht selek­tiv (alle mög­li­chen und
    denk­ba­ren Per­spek­ti­ven zum The­ma ste­hen zur
    Dis­kus­si­on; Ken­nen­ler­nen aller All­tags- und wis­sen­schaft­li­chen
    Theo­rien dazu – vgl. „Indok­tri­na­ti­ons­ver­bot“
    im „Beu­tels­ba­cher Kon­sens“);
  • rela­ti­vie­rend, nicht dog­ma­tisch (es gibt kei­ne all­ge­mei­ne, nur eine von Inter­es­sen abhän­gi­ge bio­gra­phisch­si­tua­ti­ve Prä­fe­renz für eine Per­spek­ti­ve);
  • auf­klä­rend, nicht mani­pu­lie­rend (alle Per­spek­ti­ven wer­den nach Inter­es­sen und Ideo­lo­gien hin­ter­fragt – „tota­ler Ideo­lo­gie­ver­dacht“);
  • refle­xiv, nicht pri­mär hand­lungs­ori­en­tiert (Selbst­re­fle­xi­on und das In-Fra­ge-Stel­len eige­ner Per­spek­ti­ven ver­än­dern und machen nicht unbe­dingt hand­lungs­fä­hi­ger). Das Han­deln in All­tag und Poli­tik ist allein Sache der Teil­neh­mer und unter­liegt deren Gewis­sen und Refle­xio­nen, Erfah­run­gen und Inter­es­sen — jedoch: „Ist das Reich der Ideen erst revo­lu­tio­niert, hält ihm die Pra­xis nicht mehr stand“ (Hegel);
  • auf Ver­stän­di­gung, nicht Ver­ste­hen aus (Ver­ste­hen ist Vor­aus­set­zung für Ver­stän­di­gung; Ver­stän­di­gung meint gleich­ge­wich­ti­ges und wech­sel­sei­ti­ges Aus-Han­deln durch die Ein­nah­me der Per­spek­ti­ven des/ der Ande­ren sowie deren Respek­tie­rung und Tole­rie­rung – „taking the role of the other“, Empa­thie bzw. „Exzen­tri­zi­tät“ – vgl. News­let­ter zu „Men­schen­bild“);
  • der Ver­such eines kri­ti­schen Kom­pro­mis­ses, der auch zu einer Ver­stän­di­gung über unter­schied­li­che Per­spek­ti­ven in der poli­ti­schen Bil­dung (deren Prä­mis­sen, Inter­es­sen und Ideo­lo­gien) führt, damit eine „gemein­sam geteil­te Per­spek­ti­ve”, ein neu­er Kon­sens in der poli­ti­schen Bil­dung gefun­den wird – „Poli­ti­sche Bil­dung” wird damit selbst zum Gegen­stand poli­ti­scher Bil­dung.

Quel­len:

re:publica from Ger­ma­ny (https://commons.wikime-dia.org/wiki/File:Re_publica_2013_Tag_2_%E2%80%93_Stand_Bundeszentrale_f%C3%BCr_politi-sche_Bildung_(8717588252).jpg)