Zusammenfassung
Chantal Mouffe ist eine 1943 geborene belgische Politikwissen-schaftlerin, die an der Universität von Westminster in London lehrt und bereits mehrere Aufsehen erregende Publikationen in den letzten Jahren vorgelegt hat […]
CHANTAL MOUFFE (2023): EINE GRÜNE DEMOKRATISCHE REVOLUTION. LINKSPOPULISMUS UND DIE MACHT DER AFFEKTE.
VON HARTMUT M. GRIESE
Chantal Mouffe ist eine 1943 geborene belgische Politikwissenschaftlerin, die an der Universität von Westminster in London lehrt und bereits mehrere Aufsehen erregende Publikationen in den letzten Jahren vorgelegt hat. Immer geht es bei ihr um die Kritik und Überwindung des Rechtspopulismus, um eine post-marxistische Sicht auf den Neo-Liberalismus und die Postdemokratie (vgl. dazu Buchbesprechung zu Colin Crouch im Newsletter 2/2021) und die Alternative eines Linkspopulismus, welcher Ökologie und die soziale Frage (Gerechtigkeit und Gleichheit) in Einklang bringt und sich dem herrschenden Rechtspopulismus (z.B. der AfD) entgegenstellt. Mouffe geht davon aus, dass die Krisen und Konflikte der (Post-)Moderne immer auch ein „populistisches Moment“ implizieren, welches von rechtsnational-konservativen Kräften und Parteien erfolgreich genutzt wurde. Diese Kräfte manipulieren geschickt die irrationalen Gefühle und taktieren mit dem Sicherheitsbedürfnis der Menschen in unsicheren Zeiten. Autoritäre Neoliberale haben dies in den letzten Jahren genutzt, während linke demo-kratische Kräfte auf die Überzeugungskraft des besseren rationalen Arguments wie z.B. dem „Green New Deal“ setzten.
Das Buch knüpft an ihr Manifest „Für einen linken Populismus“ an (es 2729), worin die Autorin eine Vision einer „grünen demokratischen Revolution“ entwirft, „die soziale Gerechtigkeit mit ökologischen Zielen verbindet und die Leidenschaften (das Leid und die Gefühle, H.G.) der Menschen mobilisiert“ (Textausschnitt Innenseite). Für Mouffe ist entscheidend für die Zukunft der Menschheit, wie in Krisenzeiten wie gegenwärtig die derzeitige Lage und die ökologischen Probleme wahrgenommen werden. Die erforderliche grüne bzw. ökologische Wende kann, so ihre Auffassung, nur durch eine Gefühle und Bedürfnisse der Menschen berücksichtigende linkspopulistische Strategie erfolgen, „die soziale Kämpfe im Rahmen einer Grünen demokratischen Revolution mit ökologischen Zielen verbindet“ (Umschlagtext hinten).
Im Gegensatz zu Habermas, dem einflussreichsten deutsch-sprachigen Philosophen unserer Epoche, der auf rationale, vernunftbasierte politische Auseinandersetzungen (Diskurs) als Fundament der Demokratie setzt, ist Mouffe der Meinung, dass in unseren Demokratien gegnerische ideologische Kräfte im Kampf um die Herrschaft (Hegemonie) antreten und versuchen, den jeweils anderen Teil zu unterdrücken. Demokratie ist Kampf um die Macht, über die Köpfe bzw. das Bewusstsein der Menschen. Für die Autorin steht fest, dass gegenwärtig die neoliberalen autoritären Kräfte des Nationalismus und Konservatismus die Oberhoheit – zumindest über die Stammtische, die sozialen Medien und das Internet – gewinnen bzw. gewonnen haben (vgl. die Wahlerfolge rechtsnationaler Parteien).
Mouffe geht davon aus, dass es gegenwärtig einen breiten Konsens der Parteien der Mitte gibt, was dazu geführt hat, dass quasi keine Alternative zum Modell der neo-liberalen Globalisierung gibt (TINA-Prinzip, Kapitel 1). Die herrschaftssichernde Ideologie ist, dass alle Abweichler, die sich diesem Konzept eines postdemokratischen Konsens der Mitte kritisch bis ablehnend entgegenstellen, als „extremistisch“ oder gar „terroristisch“ (vgl. das Beispiel Türkei) typisiert und damit gesellschaftlich exkludiert werden. Mouffe nennt dieses Phänomen „sowohl sozioökonomisch als auch politisch ein wahrhaft oligarchisches System“. Dabei hat die Corona-Pandemie diesen Prozess verstärkt und auch die „Tech-Giganten“ haben profitiert. Ein Protest blieb aus.
Des Weiteren widmet sich die Autorin dem Komplex „Politik und Affekte“ (Kapitel 2) und argumentiert, dass dieser Bereich rationalen Analysen schwer zugänglich ist, weshalb rechte und neoliberale Positionen hier die Oberhand gewonnen haben. Die „globalistische Linke“ dagegen hat sich diesem Komplex immer verweigert und überwiegend auf Fakten und rational be-gründete Überzeugungskraft gesetzt.
Im 3. Kapitel zu „Affekte, Identität und Identifikationen“ wird Mouffe anthropologisch, entwirft ihr Menschenbild als Grundlage ihrer politischen Theorie: Der Mensch ist nicht nur homo sapiens, nicht nur rational denkendes und handelndes Wesen, sondern immer auch affektiv und leidenschaftlich (vgl. Newsletter zu „Menschenbilder“). Menschen suchen demnach eine Gruppe, eine Gefühlsgemeinschaft, der sie angehören können und die Identität stiftet und Identifikationen anbietet. Diese Angebote kommen derzeit überwiegend vom rechten Rand der Gesellschaft.
Im abschließenden Praxisteil sucht die Autorin nach links-ökologischen Identifikationen für die grüne Revolution, die sich dem „neoliberalen Komplex aus Finanzkapital und Tech-Giganten zusammen mit den politischen Parteien der Mitte“ und deren „Konsens, dass an neoliberalen Problemlösungen kein Weg vorbeiführt“ (there is no alternative = TINA-Prinzip) entgegenstellen. Das Problem ist: Die zersplitterten links-ökologischen Kräfte kreieren oder finden kein gemeinsames Identifikationsprojekt, so dass keine Massenbewegung entsteht, obwohl die objektiven Gegebenheiten (Klimakatastrophe, Armut, Mietwucher, Inflation, Kriegspolitik, Aufrüstung etc.) quasi danach schreien. Dafür hat auch Mouffe keine schlüssige Antwort. Die Hoffnung liegt im Entwurf einer neuen positiven Gesellschaftstheorie, die für Linke aller Art ein affektiv beladenes Identifikationsobjekt wäre. Der Weg dahin wäre ein Gefühle und Bedürfnisse der Menschen berücksichtigender links-ökologischer Populismus, wie er z.B. bei Sarah Wagenknecht vorliegt (vgl. dazu die Buchbesprechung zu „Die Selbstgerechten“ im Newsletter 1/ 2021).
Wenn man Mouffe folgt, müssten Überlegungen angestellt werden zu einer „populistischen Vernunft“ von links, die dem Konsens der (rechten und linken) Mitte in Sachen Gefühle, Bedürfnisse und Identifikationen etwas entgegenzusetzen hat. Gegenwärtig erfolgen nur „Machtwechsel zwischen Mitte-rechts und Mitte-links“ (S. 10) – was die letzten Regierungsjahr-zehnte in Deutschland belegen. Seit der Finanzkrise haben sich die Polarisierung der Gesellschaft bzw. die exponentielle Zunahme der Ungleichheit verfestigt, die Prekarisierung erfasst weite Teile der Mittelschicht. Ein ethnonationalistischer Diskurs von rechts schließt Migrantinnen aus, „die als Bedrohung der nationalen Identität und des Wohlstands gelten“ (S. 11). Angesichts von gruppenspezifischen und identitätsbezogenen Kulturkämpfen von Feministinnen aller Art, Antirassisten, LGTBQ-Bewegten in unserer tribalisierten Gesellschaft gerät die „sozia-le Frage“ in den Hintergrund, die alleine einem linken Populismus dienlich wäre.
Das Fazit dieser Situationsbeschreibung lautet bei Mouffe: „Angesichts der Versuche sowohl der extremen Rechten als auch neoliberaler Eliten, die von der Pandemie (und den weiteren Krisenszenarien, H.G.) ausgelösten Affekte zu nutzen, um ein autoritäres Modell durchzusetzen ist es für die Linke unerlässlich, sich mit dem Sicherheits- und Schutzbedürfnis zu befassen“ (S. 33). Es geht politisch um die Anerkennung und Bedeutung von Affekten, von gemeinsamen Affekten und Iden-tifikationen. Konkret: „In der derzeitigen Lage, geprägt von zunehmender Unzufriedenheit mit der Demokratie und einer beunruhigenden Zahl von Nichtwählerinnen ist es unerlässlich, den konfrontativen Charakter der Politik und die zentrale Rolle von Affekten hervorzuheben“ (S. 46/47). Rechte Populisten bzw. der Neo-Nationalismus machen dies seit Jahren (siehe Türkei, Polen, Ungarn, Italien, Russland). Um Macht zu erhalten, um politisch zu handeln, bedarf es Energien und Affekte, die unverzichtbar sind, um gesellschaftliche Prozesse voranzubringen. „Was Menschen zum Handeln treibt, sind Affekte und die Identifikationen, in die diese Affekte eingebettet sind“ (S. 49). Beispiele sind die „Black Lives Matter“-Bewegung oder der „Arabische Frühling“, wo es um „echte Demokratie“ und nicht eine „Forderung nach Sozialismus“ ging. Die Forderungen hatten etwas mit Gerechtigkeit und Gleichheit zu tun, ließen aber sozialistisches Vokabular und Postulate außen vor. Der Sozialismus muss daher „im Sinne einer radikalen Demokratie umformuliert werden“ (S. 51). Dies führt zu einem links-ökologischen Populismus, der „im Namen von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit“ sowie ökologischer Nachhaltigkeit da-herkommt. Diese Themen sind affektiv besetzt und bieten Ansätze für Identifikationen (z.B. mit der „no future Bewegung“).
Die Bedeutung von Affekten und Gefühlen für menschliches Handeln ist auch in den Humanwissenschaften wieder entdeckt worden und man spricht bereits vom „affective turn“. Mouffe konzentriert sich in ihrer Analyse insbesondere auf „Leidenschaften“ als Sonderform von Affekten, gemeinsame Affekte, die eine Rolle bei politischen Identifikationen und Identitäten spielen.
„Die Weigerung der rationalistischen Linken, sich mit der affektiven Dimension von Politik auseinanderzusetzen, ist der Grund, warum so viele linke Parteien keine Verbindung zur breiten Masse herstellen können“ (S. 64/ 65). Das ist keine neue Erkenntnis, so Mouffe, den schon Ernst Bloch argumentierte in den 30er Jahren, dass „Marxisten dazu neigen, Hunger und das Bedürfnis nach Sicherheit, Heimat, Gemeinschaft und anderen Bindungsformen zu vernachlässigen“ (S. 65). Und ich ergänze: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ (Bertold Brecht). Strategisch geht es darum, „Affekte für soziale Gerechtigkeit zu generieren. Es geht um einen Kampf um Hegemonie“ (S. 66). Affekte kann man nach Mouffe schwer mit rationalen Argumenten bekämpfen, nur mit anderen, positiven Affekten. Wir müssen mit Lust und Leidenschaft für soziale Gleichheit und Gerechtigkeit eintreten. Das heißt andererseits, dass „die Linke den rationalistischen Ansatz aufgibt und dass sie begreift, worum es im politischen Kampf geht und welche entscheidende Rolle Affekte und Identifikationen spielen“ (S. 68). Politische Ideen (z.B. mehr Gerechtigkeit und Gleichheit, die soziale Frage, Natur zuerst usw.) müssen daher an Affekte gebunden sein (heute würde man sagen … müssen einfach „geil“ sein). Es muss „geil“ werden, für den Erhalt unserer Natur, die Ressourcen der Erde, eine geringere Erderwärmung oder eine De-Militarisierung einzutreten und auf die Straße zu gehen. Mouffe meint, „mit der ökologischen Krise hat das Projekt einer Radikalisierung der Demokratie eine neue Dimension erreicht“ (S. 84). Die gemeinsame „Sorge um die Umwelt“ kann Leidenschaften wecken, Menschen vereinen, tribale Eigenarten überwinden sowie Affekte und Kräfte bündeln. Mouffe will den Kapitalismus nicht zerschlagen; sie will eine „Erosion des Kapitalismus“, aufzeigen, dass er ökologisch und sozial gescheitert ist, eine radikale Reform durch alternative Institutionen, Button-up-Initiativen und zivilgesellschaftliches Engagement. Fazit: „Eine solche linkspopulistische Strategie ist heu-te, so behaupte ich, relevanter denn je“ (S. 93, letzter Satz).
In einem „Postskriptum“ konstatiert die Autorin, dass sie das Manuskript abgeschlossen hatte, als der russische Einmarsch in die Ukraine stattfand und wir uns „plötzlich in einer anderen Situation wiederfinden“ (S. 95). Sie sieht im Krieg „die Gefahr eines beträchtlichen Rückschritts im Kampf gegen die Erderwärmung … kurz: LNG hat einen größeren Karbonfußabdruck als durch Pipelines transportiertes Gas. Zudem gehen die erheblich gestiegenen Militärausgaben auf Kosten der für die Energiewende notwendigen Investitionen“ (S. 96). Sind das nicht Gründe, radikal-demokratisch sowie pazifistisch-ökologisch zu sein oder zu werden, Gründe, sich mit diesen Ideen zu identifizieren und das ganze links-ökologische Projekt mit Affekten zu besetzen, sich damit zu identifizieren sowie es einfach „geil“ zu finden?